Neudörffer Versalien Titel

Neudörffers Versalien

Als ich J. Neudörffer den Älteren (1497–1563) „kennenlernte“, war das durch seine Frakturschrift. Im Rahmen meiner Diplomarbeit hatte ich mich dann mit konstruierten Versalien* auseinander gesetzt, deren wohl prominentester Vertreter Albrecht Dürer (1471–1528) sein dürfte. Er hatte 1525 in seiner Underweysung der Messung das Alpabet mit Zirkel und Lineal konstruiert. Dürer und Neudörffer kannten sich gut, z.B. hat Neudörffer an der Ehrenpforte mitgearbeitet, die Dürer 1517 als Auftragsarbeit übernommen hat. Dadurch ist es nicht verwunderlich, dass die beiden eine ähnliche Idee zur Konstruktion ihrer Versalien verfolgten. 

Quelle linke Abbildung: Dürer, Albrecht Underweysung der Messung, 1525, Sächsische Landesbibliothek – Staats-und Universitätsbibliothek Dresden. Rechte Abbildung:  J. Neudörffer d Ä, Gründliche Fundamental und Circularische Austheilung, 1658 

1658 veröffentlichte Neudörffer ein Buch mit konstruierten Versalien mit dem Titel Gründliche Fundamental und Circularische Austheilung und Aufreissung der alten Romanischen Versalien, einzusehen in der Kunstbibliothek Berlin. Es enthält Kupferstiche seiner geometrischen Konstruktionen, eingerahmt ein ornamentale Schmuckelemente, begleitet von seiner charakteristischen Fraktur.
Die gedruckten Blätter sind in die Seiten des Buches eingefasst, wobei die Buchseiten wie eine Art Passepartout beschnitten sind und nur ein schmal geklebter Rand das Blatt hält. Es handelt sich um die originalen Kuperstiche, nur die letzten beiden Blätter WX und YZ sind Nachbildungen, die auf artifiziell glänzendem Papier reproduziert sind.
Die oben und unten positionierten Spruchbänder in Frakturschrift beginnen jeweils mit dem Buchstaben, der auf dem Blatt als konstruiertes Versal vorgestellt wird.

Auf dem folgenden Beispiel wir oben:
Am erstn solt Gott vor augen han, So wirdt auß dir ein Weiser Man.“
Und unten: Bitt den Herrn umb sein hülff und g(n)ad, Bey dem findst du all guten Rath.“
(Die Tilde auf dem g ersetzt das n.)

Quelle:  J. Neudörffer d Ä, Gründliche Fundamental und Circularische Austheilung und Aufreissung der alten Romanischen Versalien, 1658, Signatur OS 4836 mtl, Kunstbibliothek Berlin 

Für die Teilung der quadratischen Fläche bezieht sich Neudörffer auf die damals vielfach bemühte Quelle der Vitruvianischen Säulenordnung, in der Proportionen mit Säulen verknüpft werden. Obwohl er die 9-er Teilung als Schönste angibt, benutzt er (vermutlich aus praktischen Gründen) auch eine 10-er Teilung. 

Um mich mit Versalien im Allgemeinen vertrauter zu machen, habe ich das Alphabet von Neudörffer zuerst genau nachkonstruiert und anschließend überarbeitet. Bei dieser Überarbeitung habe ich die Proportionen versucht beizubehalten, wie sie von Neudörffer gestaltet wurden; allerdings habe ich die Gewichtung der Striche angepasst, um ein harmonisches Gesamtbild zu erreichen.

Die Enden der Serifen sind grundlegend verändert, sie laufen jetzt nicht mehr spitz aus, sondern enden mit einer Abflachung. 

Die folgenden Bilder zeigen jeweils zuerst den konstruierten Buchstaben Neudörffers, anschließend die präzise Umsetzung der Konstruktion im Digitalen, und als letztes meine überarbeitete Variante, die als meine eigene Interpretation verstanden werden kann. Die Buchstaben J und U waren erwartungsgemäß nicht im Alphabet enthalten, ich habe diese passend dazu gestaltet.


grau: Digitalisierung Neudörffer
schwarz: meine Interpretation


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Hintergrund-Information
In der Renaissance erwachte das Interesse für das Altertum, Steininschriften wurden abgeschrieben, vermessen und auf ihre Proportionen hin untersucht. Die erste bekannte Konstruktion aus dem Jahre 1463 kommt von dem Veroneser Felice Feliciano.