Feburar 2024
Bei der Proba centum scriptuarum handelt es sich um ein geschriebenes Schriftmusterbuch von ca. 1507 – 1517, mit 26 Pergament-Doppelblättern (= 52 Blätter bzw. 104 Seiten).
Titel: Hundert Schriften von ainer hand – der kaine ist wie ei ander. etc.
Leonard Wagner (1454 – 1522) war ein Mönch und Schreiber im Stift Sankt Ulrich und Afra in Augsburg. Die Proba centum scriptuarum war das fünfzigste Buch, das er geschrieben hat, sie enthält einhundert Schriftproben, die dem Kaiser Maximilian I. gewidmet waren. Das Schriftmusterbuch war zum Anschauen gedacht, es fungiert als Zusammenstellung grafischer Möglichkeiten – ein Ansatz einer paläografischen Systematik ist nicht zu erkennen.
Projekt
Ich arbeite an einem Langzeit-Projekt, in dem ich jede dieser 100 Schriftproben abschreiben möchte. Bisher habe ich ca. 20 Seiten geschafft (Stand Februar 2024). Mir geht es nicht darum das Buch zu kopieren, sondern die einzelnen Schriftarten besser zu verstehen. Die Methode, die dafür für mich am besten funktioniert ist, mich mit jeder Seite intensiv und indivuduell zu beschäftigen: Ich betrachte die Zeilen, versuche die Eigenheiten der Buchstaben und Wörter zu erkennen, lerne die Schrift schreiben, und das Ergebnis ist letztendlich eine abgeschriebene Seite.
Als Vorlage verfüge ich (noch) nicht über Fotos des originalen Manuskripts von Wagner, jedoch liegt mir eine exzellente Faksimile-Ausgabe vor, erschienen im Insel-Verlag, 1963, in Leipzig, inklusive einem Begleittext von Carl Wehmer.
Regia pullicalis
Auf Seite 25 (heutiger Zählung; von Wagner beschriftet mit 11) findet sich eine Buchkursive im humanistischen Stil. Am Fuß des Blattes steht ihr Name, sie ist von Wagner mit „Regia pullicalis“ benannt. In den Ausführungen von Carl Wehmer werden die Namen „Regia“ mit „königliche Schrift“ und „pullicails“ mit „gerundete Schrift“ übersetzt. Diese Benennungen sind für uns heute allerdings von geringer Bedeutung, denn sie korrespondieren nicht mit den wissenschaftlichen Begriffen, mit denen wir Schriften im 21. Jahrhundert kategorisieren.
Abb. Wagner, Leonard: Proba centum, Seite 25 2
Die obere Zeile wirkt belebt und ornamentiert den Kopfsteg. Die prominente Initiale ist – wie fast alle Initialen im Werk Wagners – im Bandwerkstil ausgeführt, kombiniert mit zwei weiteren Auszeichnungsschriften: Lomarden und eine in die Höhe gestreckte Textura, auch litterae elevatae (verlängerte Buchstaben) oder Textura elongata genannt. Diese Schmuckbuchstaben sind für meine Beschäftigung allerdings von geringerem Interesse, und daher zunächst noch nicht eingefügt.3 Mir geht es um die Textschrift, die ich analysieren und verstehen möchte.
Auf Inhalt des Textes möchte ich ebenfalls nicht näher eingehen, da es einerseits schon Wagner nur äußerlich auf den Inhalt ankam (er konzentrierte sich auf das Schriftbild), und meine Lateinkenntinsse auch nicht ausreichen, um eine fundierte Aussage darüber treffen zu können.
Herausforderung
Während des Abschreibens habe ich darüber reflektiert, was diese doch recht einfach anmutende Schrift für mich so schwierig macht. Ich möchte es am Beispiel des r erklären. Wenn man diesen Buchstaben näher betrachtet und vergleicht ist er auf ganz unterschiedliche Weise ausgeführt: Die Fahne ist wahlweise rund oder gerade geschrieben, man findet sogar ein konvexes Auftreten, sowie eine Fraktur-ähnliche Ausführung. Die Serife am Fuß zeigt oft nur nach rechts, ist manchmal extrem weit ausgeprägt, andermal kaum vorhanden. Dass es auch ein rundes r gibt erscheint zeitgerecht, allerdings wird es willkürlich gebraucht. Gewöhnlich kommt es nach runden Buchstaben zum Einsatz, vorallem nach o oder b/p, doch Wagner schreibt es auch nach einem e oder a, und lässt kein System erkennen. Beispiele aus dem oben genannten Digitalisat:
Herangehensweise
Wenn ich den Text abschreibe hefte ich eine Kopie des Textes direkt über mein Blatt, auf welches ich die Zeilen übertrage, so dass mein Auge möglichst wenig Distanz überwinden muss, zwischen den einzelnen Schritten: Buchstabe fokussieren, einprägen, Augen wandern nach unten, Buchstabe schreiben. Wären alle r’s gleich ausgeführt, dann müsste ich mir lediglich das grundlegende Prinzip merken, plus dass als nächstes ein r kommt; somit kann ich mehere Buchstaben auf einmal schreiben. Wenn jedoch jeder Buchstabe anders aufgebaut ist muss ich mir die eigetümlichen Details eines jeden einzelnen Striches merken, und dann ist es mir nur möglich ein, oder sehr wenige Buchstaben auf einmal zu schreiben. Wenn die Augen so oft hin und her springen müssen passieren schnell Fehler: man kann verrutschen, im Wort und/oder in der Zeile. Das sind auch die Probleme der mittelalterlichen Schreiber, von welchen ich schon gelesen und berichtet habe. 4
Fotos von meiner finalen Abschrift, ausgeführt mit Gänsefedern und Eisen-Gallus-Tinte:
„israhel“
Eine Besonderheit möchte ich noch erwähnen: Das Wort israhel in der zweiten Zeile ist mit einer schmaleren Feder ausgeführt, womöglich sogar in einer anderen Farbe, das kann ich anhand meines Faksimiledrucks nicht beurteilen. Vielleicht wollte Wagner das Land hervorheben? Ich plane eine Reise nach Augsburg, um das Original anzusehen, und dann werde ich diese Seite sicherlich ganz genau betrachten (und meine Erkenntnisse hier ergänzen).
Quellen und Hinweise
- Leonhard Wagner OSB und Nikolaus Bertschi mit Frau. Graduale (Lorcher Chorbuch), Lorch 1511-12, Würtembergische Landesbibliothek Stuttgart Cod. mus. I 2° 65, fol. 236v (Ausschnitt).
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lorcher_chorbuch_bertschi.jpg - Wagner, Leonhard: Proba centum scripturarum, 1963, Seite 25 aus:
https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/wagner1963bd1
Elektronische Reproduktion von: Wagner, Leonhard: Proba centum scripturarum;
[1]: Faksimile-Ausgabe. – Leipzig: Insel-Verl., 1963. – 106 S - Ich bin auf der Suche nach einer Person, die in diesem Projekt mit mir kollaborieren möchte. Die Initialen habe ich überall weg gelassen und diese sollen – gerne in einem ganz anderen Stil – im Nachhinein noch eingefügt werden. Falls du/Sie Interesse an einer Zusammenarbeit haben, freue ich mich über eine Email: manufraktur@petrarueth.de
- Schmidt, Paul Gerhard: Probleme der Schreiber – der Schreiber als Problem, 1993